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14 Nov, 2008

Julio Mendívil: Ein musikalisches Stück Heimat

Posted by: Redaktion In: Reviews

Ethnologische Beobachtungen zum deutschen Schlager.

Erschienen im transcript-Verlag, Oktober 2008.  

Von Rezensionen

Sowohl aus wissenschaftlich-epistemologischer als auch aus literarischer Sicht außerordentlich lesenswert ist die jüngste Veröffentlichung des Musikethnologen und Musikers Julio Mendívil

Mit einer ethnologischen Untersuchung des deutschen Schlagers dreht Mendívil den Spieß um, den westliche Wissenschaftler in der Regel auf sein Heimatland gerichtet halten. Er erforscht als gebürtiger Peruaner die Sozialgeschichte einer musikalischen Gattung, der oft die Attribute „‘spießig‘, ‚dekadent‘, ‚kitschig‘, ‚mittelmäßig‘ und ‚dumm‘“ zugeschoben werden, dessen bekannteste Melodien jedoch jeder Deutsche mitsummen kann.

Unter Verwendung ethnologischer Forschungsmethoden, untersucht das Buch „Ein musikalisches Stück Heimat“ den Schlagers als identitätsbildende Komponente der deutschen Gesellschaft. Das Buch geht dabei auf verschiedene in der Ethnologie geführte Diskurse und kontrovers behandelte Prämissen ein. 

Medivíl präsentiert einen erfrischend unverbrauchten und wortgewandt klugen Blick auf die theoretischen Grundlagen der Ethnologie. Er hinterfragt das Hin- und Hergerissensein des Ethnologen zwischen wissenschaftlicher Objektivität und subjektiven Standpunkten und Empfindungen, zerlegt die Frage ‚Was ist Kultur?‘ in verschiedene Ansätze und behält die durch die ‚writing culture‘– Debatte angestoßene Reflexion nach dem Autor im Text im Hinterkopf.

Der Bezug zu seinem Forschungsthema geht dabei nie verloren. Den Text würzt Julio Mendívil mit einer feinsinnigem Humor. Ein unkonventionell mutiger Schritt, mit dem ihm das Spagat zwischen wissenschaftlicher Ernsthaftigkeit und literarischem Vergnügen gelungen ist. 

Die Aufarbeitung der Geschichte des Schlagers erfolgt anhand einschneidender Ereignisse, die das Genre unmittelbar verändert haben, wie z.B. die Präsentation aufpolierter Charmeure in Dieter Thomas Hecks Hitparade, für die getrost der Terminus „Verschwiegersohnierung“ erfunden werden darf.

Unterlegt mit der Analyse aussagekräftiger Liedbeispiele, entlarvt das Buch aus welchem Grund sich der Schlager solcher Popularität erfreut. Die Konstruktion idyllischer Gemütlichkeit in Schlagertexten und durch TV-Sendung ist es, die viele Menschen in ihren Bann zieht. 

Das Buch ist ein Meilenstein der deutschen Musikethnologie. Zugleich liefert es einen wichtigen Beitrag zum Selbstverständnis der Deutschen. Diese kurze Buchvorstellung soll dort enden womit Mendívils Buch beginnt – mit einem Zitat Friedrich Nietzches: „Es kennzeichnet die Deutschen, daß bei ihnen die Frage ‚was ist deutsch?‘ niemals ausstirbt.“

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